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Im Tagespiegel vom 16.März 2010 stand, dass die Anzahl der Ergotherapie und Logopädie bei Kindern eklatant zugenommen haben. (http://www.tagesspiegel.de/berlin/Schule-Therapie;art270,3058147)  Innerhalb eines Jahres wurden Steigerungsraten bis 24% erreicht. Jedes vierte Kind in Berlin erhält nach  Schätzungen des Verbandes der Berliner Kinderärzte vor der Einschulung Logopädie oder Ergotherapie.

Wie sehen wir Therapeuten das? Was könnten die Ursachen für diesen enormen Anstieg der Therapieverordnungen sein?  Drei Ergotherapeuten aus der Praxis habe ich um ihre Meinung gebeten.

Anja Herrmann: Ich finde es erstaunlich dass, die Verordnungsquote  von Ergotherapie und Logopädie innerhalb eines Jahres so hoch gegangen ist. Woran das genau liegt finde ich schwer zu sagen. In meiner Fortbildung zur „ sensorischen Integration“  äußerte R. Schaefgen folgendes sinngemäß: „ Vor 20 Jahren hatten die Kinder einen Bewegungssektor von über 10 km, auf dem sie sich erproben und austoben konnten. Heute dürfen sie meist gerade um den Hausblock alleine laufen.“  Ich denke, dieses Zitat zeigt deutlich, dass sich unser ganzer Lebensstil geändert hat. Die Kinder haben deutlich weniger Möglichkeiten sich selber zu erproben, bekommen zu Hause  oft weniger Inputs um im Haushalt zu helfen und somit auch Fertigkeiten zu entwickeln. Zudem kommt, dass meist viel Fernsehen geschaut wird und Computerspiele genutzt werden, statt ein gemütliches Gemeinschaftsspiel in  der Familie zu machen. Der Fortschritt moderner Spielkonsolen zeigt auch deutlich die Entwicklung in dieser Richtung. Es wird den Bürgern glaubhaft gemacht, dass diese Aktivitätsspiele die tatsächliche Bewegungserfahrung ersetzen kann. Dabei ist dies nicht so. Es ist eine ganz andere Körpererfahrung Kegel mit einer richtigen Kugel umzustoßen als virtuell.

Theresa Allweiss: Erst einmal war ich doch verblüfft, wie viele Kinder in der Berlin eine Therapie besuchen. Aber wie schon in dem „Tagesspiegel“ Artikel ausgeführt, hat sich die Lebenswelt der Kinder in den letzten Jahrzehnten sehr verändert. Gleichzeitig hat sich unser Bildungs- und Erziehungssystem wenig an diese Umstände angepasst. Zusätzliche Programme, die die Entwicklung fördern, gibt es kaum. Kinder, die vermehrt oder abweichende Unterstützung benötigen, laufen Gefahr, im hiesigen Schulsystem unter zugehen. Gleichzeitig steigt jedoch häufig der Druck  in den Familien – geschürt durch Wirtschaftskrise und der Angst vor sozialem, sowie finanziellem Abstieg – wollen sie verständlicherweise nur die beste Ausbildung für ihre Sprösslinge. Das in dieser Situation sehr genau beobachtet wird, wie sich ein Kind entwickelt und bei etwaigen Auffälligkeiten oder Verzögerungen Therapie verschrieben wird, ist für mich nicht verwunderlich.

Andreas Bohmann: Sicher hat Herr Abel, der zitierte Kinderarzt recht, wenn er die veränderten Spielgewohnheiten der Kinder (Play Station, Nintendo, Computer) als eine wesentliche Ursache sieht. Das reicht aber nicht aus, um einen so eklatanten Anstieg innerhalb kürzester Zeit zu erklären. Einen zweiten Grund sehe ich noch in der Vorverlegung des Einschulalters. Früher konnte man Kinder immer zurückstellen, das ist meines Wissens heute deutlich schwieriger.  Ein dritter Grund könnte in den veränderten Einstellungen zu Regeln und Forderungen liegen. Viele Eltern setzen bei ihren Kindern Regeln weniger konsequent durch und stellen kaum noch Anforderungen. Dadurch können die Kinder unbeliebte und schwierige Aufgaben vermeiden und entwickeln sich nicht altersentsprechend. Spätestens vor der Einschulung fallen diese Defizite auf. Den Eltern wird bewusst, dass ihr Kind in der Schule Schwierigkeiten haben könnte, weil es sich dort an Regeln halten muss um zu lernen – und sei es nur dem  Unterricht zu folgen, sitzen zu bleiben oder die Aufgaben zu machen, die die Lehrerin erwartet. Vorher wird dann nach Hilfe gesucht, um dem Kind einen besseren Start in die Schule zu ermöglichen. In diesem Fall bietet sich der verhaltenstherapeutische Ansatz in der Ergotherapie zur Behandlung an. (siehe Blogartikel vom 3. März „Der verhaltenstherapeutische Ansatz in der Ergotherapie“)

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Das Thema diskutieren wir auch gerade in den Vorlesungen, in Österreich ist die Entwicklung wohl ganz ähnlich. V.a. der reduzierte Bewegungsraum ist – zumindest im Vergleich zu meinen Kindheitserinnerungen – sehr auffällig, auch im eigenen Familienfeld.

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